Namibia vor den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2024: „Allein die Befreiungsbewegung zu sein reicht nicht mehr!“
In wenigen Wochen, am 27. November, wählen die Menschen in Namibia ein neues Staatsoberhaupt und ein neues Parlament. Politikwissenschaftler und Wahlbeobachter erwarten die knappsten Wahlen der namibischen Geschichte. Bei diesen Wahlen könnte sich außerdem zeigen, inwieweit die beteiligten Parteien demokratische Prinzipien achten.
So früh wie in diesem Jahr hat der Wahlkampf in Namibia noch nie begonnen. Schon im März und im April 2024 gab es erste eindeutige Stellungnahmen der Parteien und ihrer Kandidaten. Und seit der Wählerregistrierung im Juni und Juli 2024, die in Namibia aufgrund eines fehlenden Landeseinwohneramtes nötig ist, hat sich der Wahlkampf noch einmal verstärkt. „Früher ging der intensive Wahlkampf immer erst so im September los“, sagt der deutsch-namibische Sozial- und Politikwissenschaftler Henning Melber. Für ihn ist der frühe Wahlkampf-Beginn in diesem Jahr ein eindeutiges Indiz dafür, dass sich in Namibia etwas verändert und die bevorstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen besondere Wahlen für das Land sind.
Aber wieso ist das so? Seit 35 Jahren regiert in Namibia die SWAPO-Partei. Sie holte stets deutliche, absolute Mehrheiten bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen. Noch vor zehn Jahren verzeichnete Namibias Volkspartei sogar Rekord-Wahlergebnisse: 80 Prozent aller Parlamentssitze gingen an die SWAPO. Auch der SWAPO-Kandidat Hage Geingob wurde damals mit beeindruckenden 87 Prozent der Stimmen zum Präsidenten gewählt. Doch Henning Melber beobachtet, dass diese Zeit vorbei zu sein scheint: „Bei den Wahlen 2019 hat die SWAPO die schlechtesten Ergebnisse seit der Unabhängigkeit eingefahren. Erstmals hatte sie mit nur 65 Prozent der Sitze in der Nationalversammlung keine Zwei-Drittel-Mehrheit mehr. Und Hage Geingob wurde zwar als Präsident wiedergewählt, hat dabei aber mehr als 30 Prozent der Wählerstimmen im Vergleich zur Präsidentschaftswahl davor eingebüßt. Noch deutlichere Einbrüche hat die SWAPO ein Jahr später bei den Regionalwahlen erlebt. Das hat wirklich keiner erwartet! In allen für die namibische Wirtschaft bedeutenden Städten – Windhoek, Walvis Bay und Swakopmund – haben frühere Oppositionsparteien jetzt die Mehrheit.“
Diesmal könnte es auf die knappsten Ergebnisse bei Parlaments- und Präsidentschaftswahlen hinauslaufen, die Namibia je erlebt hat, vermutet Henning Melber: „In Namibia gibt es keine zuverlässigen Wahlumfragen wie in Deutschland. Die wenigen Versuche, ein Meinungsbild in der Bevölkerung zu ermitteln, sind recht unseriös. Umso schwieriger sind Prognosen, was den Wahlausgang angeht.“ Und dennoch gebe es zwei eindeutige Trends, die für ein verändertes Wählerverhalten sprechen: „Zum einen ziehen immer mehr Menschen in Städte. Hier lebt es sich deutlich anonymer als zuvor auf dem Land, auf dem es in den bevölkerungsreichen nördlichen Regionen kaum möglich ist, was anderes als die SWAPO zu wählen, ohne abgestraft zu werden. Zum anderen sind mittlerweile etwa 70 Prozent der Namibier sogenannte „Born frees“ – also jene, die nach 1990 geboren sind und die Unabhängigkeitskämpfe nicht miterlebt haben. Sie haben nicht den Eindruck, der SWAPO aufgrund ihres Status als Befreiungsbewegung irgendeine politische Loyalität zu schulden.“
Angst vor Wahlmanipulation
In dem zunehmenden Machtverlust der SWAPO sieht Henning Melber, der selbst seit 50 Jahren SWAPO-Mitglied ist, eine große Gefahr: „Weltweit häufen sich in Ländern, in denen die Macht der seit Jahrzehnten herrschenden Partei bröckelt, Wahlmanipulations-Verdachtsfälle. Umso wichtiger ist es, zu prüfen, ob die SWAPO in diesem Jahr der Versuchung widerstehen kann, manipulativ einzugreifen.“ Die Aufgabe, dies zu prüfen, übernimmt bei den anstehenden Parlaments- und Präsidentschaftswahlen in Namibia unter anderem das Team von Natalie Russmann von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Windhoek. Die Stiftung fungiert bei diesen Wahlen als Wahlbeobachterin. „In anderen afrikanischen Staaten wurden Wahlen in den vergangenen Jahren beeinflusst. Hier habe ich das bisher noch nicht wahrgenommen“, sagt Natalie Russmann und ist zuversichtlich, dass das auch bei den Wahlen Ende November 2024 so bleibt. Grund zur Zuversicht gibt ihr die gelungene Machtübergabe nach dem Tod des namibischen Präsidenten Hage Geingob im Februar 2024: „Sein Tod hat gezeigt, dass Namibia politisch stabil ist. Die Machtübergabe verlief ohne jegliche Unruhen oder Proteste. In anderen Ländern war es in Situationen wie dieser, in der vorübergehend ein Machtvakuum entsteht, schonmal schwierig.“
Doch wie gefestigt ist Namibias Demokratie tatsächlich? Seit der Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1990 ist es eines der friedlichsten Länder Afrikas – nicht zuletzt auch verursacht durch seine besonders hohe politische Stabilität. „Seit der Unabhängigkeit sind in Namibia keine politisch motivierten Todesfälle bekannt und so gut wie keine politischen Handgreiflichkeiten“, betont Henning Melber. Auch der verstorbene Präsident Hage Geingob habe diverse Maßnahmen ergriffen, um Namibias Demokratie zu schützen. „Er hat sich damals geweigert, Sam Nujoma in dem Vorhaben zu unterstützen, seine Amtszeit als Präsident über die verfassungsmäßige Dauer zu verlängern. Damit hat er seinen Anteil dazu geleistet, die Verfassungsprinzipien des Landes zu wahren. Das war auch eines seiner obersten Prioritäten später während seiner eigenen Präsidentschaft“, sagt Henning Melber.
Seit Hage Geingobs Tod gibt es jedoch einige Entwicklungen, die dem Sozial- und Politikwissenschaftler Sorgen bereiten: „Seit beispielsweise Namibias höchstes Gericht entschied, das Verbot homosexueller Partnerschaften aufzuheben, gibt es einige äußerst fragwürdige, politische Aussagen, gesetzlich hier nun nachbessern zu müssen. Die Politik stellte also die Entscheidung des obersten Gerichts infrage und wollte direkt Gesetze auf den Weg bringen, um die Gleichstellung zu verhindern. Das Anzweifeln des obersten Gerichts eines Landes gilt es in einer Demokratie äußerst intensiv zu beobachten.“
SWAPO 2024: Ein im Amt gestorbener Präsident und eine Frau als Spitzenkandidatin
Namibia durchlebt zur Zeit ein außergewöhnliches Politik-Jahr, dass im Februar 2024 mit dem Tod des amtierenden Präsidenten Hage Geingob begann. Dazu Henning Melber: „Sein Tod war für die Menschen in Namibia über Parteigrenzen hinaus traumatisch. Das Land war für einige Tage im Schockzustand.“ Auch Natalie Russmann erinnert sich gut an die Tage nach dem Ableben des Präsidenten: „Überall im Land fanden Gedenkfeiern statt. Man hat Hage Geingob gewürdigt und darin war sich auch das ganze Land einig.“ In ihrem vor wenigen Wochen veröffentlichten Wahlmanifest huldigt die SWAPO ihren verstorbenen Präsidenten auf den ersten Seiten – Henning Melber fiel bei der Analyse des Manifests aber auf, dass „sein politisches Vermächtnis auf den darauffolgenden 50 Seiten nicht einmal erwähnt“ wird. Für viele sei er zwar ein Held des Landes, aber doch auch ein Präsident der unerfüllten Versprechen. „Hage Geingob hat in Reden immer wieder versichert, dass seine Politik niemanden zurücklassen würde. Genau dieses Gefühl hat sich aber vor allem bei vielen jungen Menschen, die arbeitslos sind, breit gemacht.“
Somit setzt die SWAPO durchaus auf einen kleinen Neuanfang bei den jetzt anstehenden Wahlen – erstmals mit einer Frau als Präsidentschaftskandidatin: Netumbo Nandi-Ndaitwah hat die vielversprechendsten Aussichten darauf, bald Namibias Staatsoberhaupt zu sein. „Ihre Kandidatur folgt einer gewissen Logik“, sagt Henning Melber. „Sie ist Veteranin der zweiten Generation und war im Ovamboland in der SWAPO-Jugendliga aktiv. Im Exil erfüllte sie Funktionen für die SWAPO, hat in Moskau und Großbritannien studiert und sich über Jahrzehnte hochgedient. Nach der Unabhängigkeit war sie Ministerin, zuletzt die Außenministerin Namibias.“ Netumbo Nandi-Ndaitwah gilt als sehr christlich und konservativ – „man darf von ihr keine großartigen Reformen erwarten“, sagt Natalie Russmann von der Konrad-Adenauer-Stiftung. Innenpolitisch erkennt Natalie Russmann in der Kandidatur der 72-Jährigen einen tieferen Sinn: „Die Gleichstellung der Geschlechter war schon immer eine Herzensangelegenheit von Netumbo Nandi-Ndaitwah. Genau damit macht die SWAPO nun auch Wahlkampf: Eine Frau als Kandidatin! Außenpolitisch dürfte das weniger eine Signalwirkung haben – Namibia besetzt hochrangige politische Stellen ja schon lange möglichst gerecht mit Männern und Frauen und ist damit im Bereich Parität im Afrika-Vergleich weit vorne mit dabei.“
Als größten Herausforderer der SWAPO-Kandidatin sieht Sozial- und Politikwissenschaftler Henning Melber das frühere SWAPO-Mitglied Panduleni Itula: „Er ist bei den Präsidentschaftswahlen vor fünf Jahren als parteiloser Kandidat angetreten und hat auf Anhieb 30 Prozent der Stimmen geholt. Mittlerweile hat er seine eigene Partei, die Independent Patriots for Change (IPC) gegründet. Seine Kandidatur ist einer der Gründe, weshalb ich es für möglich halte, dass wir bei den Präsidentschaftswahlen Ende November ein Novum erleben und erstmals eine Stichwahl stattfindet. In diesem zweiten Wahlgang könnte Netumbo Nandi-Ndaitwah dann zwar mit einem blauen Auge davonkommen und Präsidentin werden. Es könnten aber erstmals in der Geschichte Namibias zwei Wahlgänge nötig sein.“
Über die Ziele der Parteien und die Bedürfnisse der Menschen
In den kommenden Wochen geht der Wahlkampf mit Hochdruck weiter. Natalie Russ-mann von der Konrad-Adenauer-Stiftung hat ihr Büro in Windhoek, ist im Rahmen der Wählersensibilisierung derzeit aber auch viel im Land unterwegs. „Ich erlebe die SWAPO jetzt im Wahlkampf sehr aktiv, aber auch einige der Oppositionsparteien, wie die Independent Patriots for Change (IPC), die Landless People‘s Movement (LPM) und die Popular Democratic Movement (PDM). Von den anderen, kleineren Parteien nehme ich wenig wahr.“
Vor einigen Wochen haben – wie die SWAPO – auch die anderen Parteien ihre Wahlmanifeste veröffentlicht. Während die SWAPO 256.000 Arbeitsplätze schaffen und 10.000 Häuser bauen will, verspricht die IPC die Korruption zu bekämpfen, Steuern für vor allem kleinere Unternehmen zu senken und den stark aufgeblähten, öffentlichen Sektor zu verkleinern, indem sie die Zahl der Ministerien reduziert, um Ausgaben zu senken. Letzteres will auch die PDM, die zudem neue Industrien durch Privatunternehmen etablieren und das Gesundheitssystem verbessern will. „Eines haben all diese Wahlmanifeste gemeinsam“, sagt der Politik- und Sozialwissenschaftler Henning Melber, der die Manifeste genauer studiert hat: „Die Parteien erklären in ihren Wahlmanifesten nicht, wie sie ihre Ziele erreichen oder finanzieren wollen. Alle verfolgen ähnliche Ziele. In allen Parteien lässt sich ein ähnliches Machtgerangel beobachten. Das macht es für die Wähler schwer.“ Ähnlich formuliert es auch Natalie Russmann: „Die SWAPO weiß, dass die Wirtschaftslage desolat ist. Ich erkenne aber nicht wirklich ein Wirtschaftskonzept in diesem Wahlmanifest, wie beispielsweise Industrialisierung stattfinden kann. Auch bei den Oppositionsparteien erkenne ich kein klares Konzept.“
Politikverdrossenheit ist bisher in Namibia aber nicht zu erkennen. Im Gegenteil: Über 90 Prozent aller Wahlberechtigten haben sich für die Wahl registrieren lassen – so viele, wie noch nie. Rund 1,5 Millionen Menschen in Namibia entscheiden in drei Wochen somit über die politische Zukunft des Landes. In der Wahlkabine geben sie auf einem Wahlzettel ihre Stimme für das Parlament ab und auf dem anderen Zettel machen sie ihr Kreuz für ihren Präsidentschaftskandidaten. Womit ist also schlussendlich zu rechnen? Henning Melber prognostiziert: „Das Ergebnis der Parlamentswahl dürfte zwar knapper ausfallen als je zuvor, aber letztendlich würde ich mit einer bescheidenen Dominanz der SWAPO rechnen. Sie hat viel mehr Wahlkampfressourcen als die anderen Parteien und vor allem im Ovamboland im ländlichen Norden eine breite, treue Wählerschaft. Bei den Präsidentschaftswahlen könnte die SWAPO-Dominanz eher bröckeln – spätestens in der Stichwahl dürfte sich aber Netumbo Nandi-Ndaitwah durchsetzen.“ Natalie Russmann von der Konrad-Adenauer-Stiftung erkennt in den derzeitigen Trends große Chancen für Namibia: „Es könnte dem Land guttun, wenn künftig mehr Parteien eine Rolle spielen. Koalitionen und Allianzen in der Regierung sind erstmals möglich und hätten nicht nur Vorteile für eine konstruktive Politik, sondern auch für die namibische Demokratie im Allgemeinen. Auch eine stärkere Opposition ist wünschenswert.“
Dies setzt voraus, dass die SWAPO die neue politische Realität im Land akzeptiert – so wie es die ANC im Frühjahr 2024 in Südafrika auch musste. „Allein die Befreiungsbewegung zu sein reicht nicht mehr – das Ticket ist allmählich abgelaufen.“, sagt Natalie Russmann – die SWAPO müsse sich künftig inhaltlich noch stärker aufstellen. „Die Menschen in Namibia merken, dass die SWAPO ihre Lebenssituation in den vergangenen Jahrzehnten nicht mehr verbessert hat. Etwa die Hälfte aller jungen Menschen in Namibia sind arbeitslos. Und diese jungen Menschen werden die Wahlen entscheiden.“ Henning Melber formuliert es etwas drastischer: „Die Zeit, in der die Apartheid für die Zustände im Land verantwortlich gemacht werden kann, ist vorbei. Den Menschen wird zunehmend klar, dass das mit politischem Versagen der Gegenwart zusammenhängt.“