Rückschritte in Namibias Bildungssektor
Es sind bedenkliche Tendenzen, die Namibias jüngst veröffentlichter Zensusbericht im Bereich Bildung offenbart: Immer mehr Menschen in Namibia können nicht lesen und schreiben, gut jeder Zehnte hat noch nie eine Schule besucht und fast jeder Siebte bricht die Grundschule ab. Kann Namibia hinsichtlich dessen seine für 2030 festgelegten Ziele im Bildungssektor überhaupt noch erreichen?

Die Bildungsinspektorin der Omusati-Region im Norden Namibias, Helena Ipinge (in weiß), stellt Interessierten auf dem Kirchplatz in Okahao das Konzept einer neu geplanten Schule in der Nähe vor.
Bis 2030 will die namibische Politik allen Kindern im Land den Zugang zu kostenloser und hochwertiger Bildung ermöglichen. Zu diesem Ziel hat sich Namibia im Rahmen der Agenda 2030 der Vereinten Nationen (UN) verpflichtet. Der vor gut einem Monat (28.10.2024) veröffentlichte Bericht zur jüngsten Volkszählung zeigt aber: Namibia steckt weiter tief in einer bildungspolitischen Krise, die dieses Ziel stark gefährdet und sogar dafür sorgt, dass das Land im Bildungssektor Rückschritte macht.
Besorgniserregend ist der Trend bei der sogenannten Lesefähigkeit (Alphabetisierung), die als wichtiger Indikator für das Bildungsniveau eines Landes gilt: Gaben in der Volkszählung von 2011 noch 89 Prozent aller mindestens 15-Jährigen an, lesen und schreiben zu können, waren es diesmal nur noch gut 87 Prozent. Weltweit gibt es nicht viele Länder, in denen diese Quote rückläufig ist. Ähnlich viele Menschen (über 240.000 der mindestens 6-Jährigen) gaben bei der Volkszählung in 2023 an, nie eine Schule besucht zu haben – bei der Volkszählung 2011 waren es noch gut 10.000 Schulabwesende weniger. Das verdeutlicht, dass es den namibischen Bildungsministerien weiterhin nicht gelingt, für alle Kinder des Landes bezahlbare Bildungsangebote oder erreichbare Bildungseinrichtungen zur Verfügung zu stellen. Auch aktuell besuchen mehr als sieben Prozent aller Kinder im Grundschulalter nicht die Grundschule, wie der Zensus in 2023 ermittelte. Darüber hinaus bricht fast jedes siebte Kind (15 Prozent) landesweit die Grundschule ohne Abschluss ab.
Kunene-Region Schlusslicht in Namibias Bildungssektor

Unter anderem die Kinder der sehr traditionell lebenden Himba-Familien in Kunene sind vom staatlich organisierten Schulalltag noch oft isoliert.
Vor allem in der Kunene-Region im Norden Namibias ist die Bildungssituation dramatisch: Hier ist derzeit sogar mehr als jedes dritte Kind im Grundschulalter nicht in der Schule (36 Prozent). Ähnlich verhält es sich mit früheren Schulkind-Generationen: Allgemein hat in Kunene mehr als jeder dritte Mensch, der mindestens sechs Jahre alt ist, nie eine Schule besucht (ebenfalls 36 Prozent). In keiner anderen Region Namibias ist auch die Alphabetisierungsrate so niedrig wie in Kunene (64 Prozent).
Lichtblicke bei frühkindlicher Bildung
Gestiegen ist im Zensus 2023 dagegen die Zahl der Kinder, die landesweit bereits in sehr jungen Jahren an frühkindlichen Betreuungs- und Bildungsangeboten wie Kitas und Vorschulen teilnehmen: Jedes fünfte Kind (21 Prozent) war es bei der Volkszählung in 2023; in 2011 (18 Prozent) waren es anteilig noch deutlich weniger. Oft waren die zu große Distanz zu entsprechenden Bildungseinrichtungen oder die dafür anfallenden Kosten die Gründe dafür, weshalb Eltern ihre Kinder im Kindergarten- und Vorschulalter nicht zu diesen Angeboten angemeldet haben. Schlusslicht ist auch in dieser Statistik die Kunene-Region: Nur jedes neunte Kind geht in eine Kita oder in die Vorschule.
Wo steht Namibia im Jahr 2024?
Kurz nach seiner Unabhängigkeit hat Namibia die UN-Kinderrechtskonvention unterschrieben. Damit verpflichtete sich das Land, allen Kindern das Recht auf Bildung einzuräumen und Maßnahmen zu ergreifen, um für alle kostenlose und hochwertige Bildung zur Verfügung zu stellen. Wesentlich vorangetrieben wurde dieses Ziel, indem Namibia 2013 die Grundschulgebühren flächendeckend abschaffte. Vor fast zehn Jahren dann konkretisierten die Vereinten Nationen im Rahmen der Agenda 2030, dass die Mitgliedsstaaten die Bildungsziele bis 2030 erreichen sollten. Das Team der Vereinten Nationen in Namibia sah das Land in August 2024 noch „auf einem guten Weg“, was das Erreichen der Ziele angeht: Im Jahr 2022 seien über 99 Prozent aller sechs- bis siebenjährigen Kinder in einer Grundschule eingeschult worden, rund 96 Prozent aller hätten die Sekundarstufe abgeschlossen, über 95 Prozent seien alphabetisiert und über 77 Prozent der Kinder bis sechs Jahre hätten eine Vorschule besucht. Diese und viele weitere Faktoren würden darauf hindeuten, dass Namibia es schaffen könnte, das Bildungsziel der Vereinten Nationen bis 2030 zu erreichen.

Unterricht in dem verhältnismäßig gut ausgestatteten Klassenzimmer einer Privatschule in Outapi im Norden Namibias.
Die Ergebnisse der jüngsten Volkszählung widersprechen jedoch der Zwischenbilanz der Vereinten Nationen. Obwohl Namibia in den vergangenen Jahren stets gut ein Viertel des Staatshaushaltes in den Bereich Bildung, Kunst und Kultur investierte, haben noch immer viele tausend Kinder und Jugendliche landesweit keinen Platz in staatlichen Schulen. Auch die Kosten, die im Rahmen des Schulbesuchs auf namibische Familien zukommen (Schulmaterialien, Schuluniformen, Hygieneartikel etc.), übersteigen trotz der abgeschafften Schulgebühren oft noch die finanziellen Möglichkeiten vieler Familien. Dass die Quote jener, die in Namibia lesen und schreiben können, sinkt und der Anteil jener, die nicht zur Schule gehen, stagniert, zeigt, dass es derzeit offenbar kaum wesentliche Fortschritte gibt, um allen qualitative Bildung zu ermöglichen.
Investitionen in die Bildung besonders lohnenswert
Die Vereinten Nationen (UN) betonen stets, dass nichts die Zukunft eines Landes derart fördert und die Chancen des Einzelnen verbessert, wie Investitionen in die Bildung. Genau deswegen wurde Bildung vor 75 Jahren von der UN als Menschenrecht definiert. Es sei „der Schlüssel zu individueller und gesellschaftlicher Entwicklung“ (UNESCO-Kommission Deutschland). Während der einzelne durch Bildung seine Persönlichkeit entfalten und ein selbstbestimmtes, erfülltes Leben führen könne, stärke Bildung gesellschaftlich die Demokratie, fördere Toleranz, eine weltbürgerliche Haltung und nachhaltiges, reflektiertes Handeln. Umso wertvoller wäre es, wenn Namibia es gelingt, die Rückschritte im Bildungssektor zu stoppen und Fortschritte zu erzielen.